Liebe Leserinnen und Leser, das Osterfest hat dazu angeregt, Bräuche zu erfinden. Ein recht junger Brauch ist es, den Dorfbrunnen als Osterbrunnen zu verzieren – mit einer Osterkrone, an der bunte Ostereier hängen. Dieser Brauch stammt aus der Fränkischen Schweiz und kam wohl Ende des 19. Jahrhunderts auf. Die geschmückten Brunnen sollten Besucher anlocken. Osterzeit – Reisezeit. Manche fränkische Ortschaft zählt die Busse, die an ihrem Osterbrunnen anhält. Der Brauch hat sich inzwischen über Franken hinaus verbreitet. Siehe die Bilder von den Osterbrunnen im Putzbrunner Kirchenzentrum oder in Grasbrunn.
Wie kam es zur Erfindung dieses Brauchs? Ist er gar aus dem christlichen Osterglauben entstanden? Bewusst wohl nicht. Aber aus dem Bauch heraus gesprochen: Der Brauch passt zu Ostern. Der Brunnen, das Grün, die Eier, der Schmuck: lauter Symbole des Lebens und der Lebensfreude. So ein geschmückter Brunnen wird zum Symbol. Er feiert das Leben und passt deshalb gut in die Osterzeit.
Ich glaube, so ein Osterbrunnen rührt eine Tiefenschicht in uns an. Der Brunnen ist ein uraltes Symbol. Menschen haben Brunnen verehrt, sind an ihnen auf Götter oder Göttinnen gestoßen und haben ihnen an diesen Brunnen gedankt. Das klingt gewiss auch im Namen von Putzbrunn noch an. Doch heutzutage empfinden wir die alte Ehrfurcht vor dem Brunnen nur schwach. Unser Trinkwasser kommt aus dem Mangfalltal und aus dem Wasserhahn. Allerdings: Wer in einem trockenen Sommer an der Mangfall entlangradelt und am Brunnenkunstwerk von Karl-Jakob Schwalbach die Trinkflasche auffüllt, kommt ursprünglichen Gefühlen nahe, ist begeistert vom klaren, kalten Wasser, das da unerschöpflich fließt, und empfindet Dankbarkeit.
Auch in der Bibel sind Brunnen Orte, an denen Menschen Gott begegnen. Hagar stößt in der Wüste auf einen Brunnen. Ein Mann redet dort mit ihr. Er kennt sie (sie ihn aber nicht) und bringt sie zurück auf den Lebens-Weg. Hagar erkennt hinterher, wer da mit ihr geredet hat, und gibt dem Brunnen den Namen: „Brunnen des Lebendigen, der mich sieht“ (Gen 16). Ähnlich geht es einer Frau aus Samaria, die am Jakobsbrunnen Wasser schöpft. Ein Mann verwickelt sie dort in ein Gespräch, wo es denn das wahre Wasser des Lebens gebe. Der Mann kennt sie. Sie fühlt sich erkannt. Und am Ende geht ihr auf: Hier spricht Christus zu mir (Joh 4). An beiden Brunnen wird nicht nur Wasser geschöpft. Es kommt zu einer Begegnung und persönlichen Einsicht: dass Gott „mich“ begleitet und ins Leben führt. Diese Brunnengeschichten ähneln den Ostererzählungen. In denen wird der Auferstandene ja auch nicht gleich erkannt, sondern erst am Ende oder hinterher.
So erinnern uns die Osterbrunnen an das Geheimnis des Lebens: Es stammt aus Quellen, die unverfügbar sind, es wird uns gegeben und unverhofft gerettet. Gott sei Dank! So erfahren es Hagar, die Frau aus Samaria – und Jesus Christus.
Informationen stammen aus den Artikeln „Osterbrunnen“ auf Wikipedia und „Ostern / IV. Brauchgeschichtlich“, RGG4 Bd. 6, Spalte 734f. Wie erreichen Sie im Mangfalltal das erwähnte Brunnenkunstwerk? Nehmen Sie in Mühlthal bei Weyarn den Rad- und Wanderweg Richtung Bayrischzell. Am Spiralschacht Thalham (nach ca. 3 km) stoßen Sie auf das Kunstwerk.
Pfarrer Dr. Sebastian Degkwitz