Seit 1. September 2020 ist Dr. Bernhard Liess Stadtdekan im evangelischen Dekanatsbezirk München. Er bekommt mit, was die Kirchengemeinden für die Geflüchteten aus der Ukraine unternehmen. Er hat auch Kontakte zur lutherischen Partnergemeinde in Kiew. Deshalb haben wir ihm Fragen zur gegenwärtigen Situation gestellt.
Was tut das Dekanat München derzeit für die Ukraine?
Wir erleben gerade eine große Welle der Hilfsbereitschaft. In zahlreichen Kirchengemeinden gibt es regelmäßige Friedensgebete. Menschen aus der Ukraine können sich in unseren Gemeindehäusern treffen. Der Dekanatsbezirk hat mehrere Wohnungen für ukrainische Flüchtlinge zur Verfügung gestellt. Viele Flüchtlinge wurden durch die Vermittlung von Kirchengemeinden privat untergebracht. Benefizkonzerte werden organisiert und es gibt eine große Spendenbereitschaft.
Wie geht es der Partnergemeinde in Kiew?
Die Situation in Kiew ist angespannt, auch nach dem Rückzug der russischen Armee aus dem Raum Kiew. Gottesdienste finden zur Zeit nicht statt. Zahlreiche Gemeindeglieder sind geflohen und über 30 von ihnen sind zur Zeit in München. Bedürftige Gemeindeglieder werden aktuell mit Spenden und Sachspenden unterstützt. Wie es weitergeht, ist völlig offen.
Gibt es direkte Unterstützung für diese Gemeinde und ihre Glieder?
Ja, etwas 20.000 € an Spenden wurden im März für Kiew zur Verfügung gestellt.
Flüchtlinge aus unserer Partnergemeinde, die hier in München angekommen sind, werden mit Spenden unterstützt.
Viele empfinden eine Ohnmacht angesichts des Krieges gegen die Ukraine. Aber als Christen sehen wir uns aufgerufen, für den Frieden tätig zu sein. Wie kann Ihrer Meinung nach unser Einsatz für den Frieden derzeit aussehen?
Unser Einsatz für den Frieden könnte verschiedene Aspekte umfassen: Die tätige Hilfe durch Spenden, durch Unterstützung von Flüchtlingen und durch die nicht zu unterschätzende Kraft des Gebets. Zugleich können wir deutlich machen, dass dieser Krieg durch nichts zu rechtfertigen ist und ein einseitiger Gewaltakt mit schweren Kriegsverbrechen darstellt. Hier braucht es deutliche Worte und Signale, weitreichende politische Sanktionen und eine großflächige Unterstützung der Ukraine. Frieden wird es nur geben, wenn Russland sich aus der Ukraine zurückzieht und den Krieg beendet. Und selbst dies wird dann nicht einfach Friede sein, sondern ein Zustand weitreichender Zerstörungen mit vielen unschuldigen Toten und unendlichem Leid. Der Friede ist also leider noch weit entfernt. Als Christinnen und Christen sind wir aufgerufen, auch neu über das Thema Friedensethik nachzudenken. Wir müssen uns der unangenehmen Wahrheit stellen, dass unsere Werte wie Demokratie, Menschenrechte und Pluralismus nicht zum militärischen Nulltarif zu haben sind. Hier sehe ich gerade eine bittere Erkenntnis, für die die Ukraine einen furchtbaren Preis bezahlt. Als Christinnen und Christen müssen wir uns hier gegebenenfalls neu positionieren.
Der Krieg bringt so viel Zerstörung mit sich. Darf ich Sie ganz persönlich fragen: Gibt es etwas, was Sie angesichts dessen aufbaut und aufrichtet?
Bei aller Barbarei erlebe ich doch auch eine neue Besinnung auf den Wert unserer demokratischen offenen Gesellschaft. Es ist für mich ermutigend, dass viele Menschen jetzt doch angesichts der brutalen Gewalt sehen, was Menschlichkeit, Nächstenliebe und Würde des Menschen bedeuten, und wie wichtig sie sind für den Zusammenhalt einer Gesellschaft. Ich sehe zugleich eine so große Hilfsbereitschaft, so viel Anteilnahme und Solidarität. Das bewegt mich sehr.
Das Interview führte Pfarrer Sebastian Degkwitz