Mein Ostergedicht

Advents- und Weihnachtsgedichte gibt es zuhauf. Ostergedichte sind weit weniger populär. Dabei ist gerade jetzt die Zeit für die geheimnisvolle Sprache der Lyrik. Alles blüht auf – der Frühling versinnbildlicht die Hoffnung auf die Auferstehung wie keine andere Jahreszeit. Aus dem Toten entsteht neues Leben, und wir Menschen bestaunen dies. Nun erscheint uns die Natur wieder einladender, sie heißt uns willkommen und wir drängen aus unseren Kämmerlein hinaus ins Freie, damit uns die Sonne anstrahlt. Und so werde auch ich bei meiner Recherche wieder auf das eine, wohlbekannte Ostergedicht zurückgeworfen. Goethe nimmt uns mit seinem Doktor Faustus mit in eine erhebende Osterstimmung: Wo das Leben zum Fest wird, erscheint uns flüchtig der Himmel auf Erden. 

Ein frohes und gesegnetes Osterfest wünscht Ihnen, Vikar Yannick Schlote


Osterspaziergang (aus Faust I)
 
Vom Eise befreit sind Strom und Bäche,
Durch des Frühlings holden, belebenden Blick;
Im Tale grünet Hoffnungs-Glück;
Der alte Winter, in seiner Schwäche,
Zog sich in rauhe Berge zurück.
Von dorther sendet er, fliehend, nur
Ohnmächtige Schauer körnigen Eises
In Streifen über die grünende Flur;
Aber die Sonne duldet kein Weißes,
Überall regt sich Bildung und Streben,
Alles will sie mit Farben beleben;
Doch an Blumen fehlt's im Revier,
Sie nimmt geputzte Menschen dafür.
Kehre Dich um, von diesen Höhen
Nach der Stadt zurück zu sehen.
Aus dem hohlen finstern Tor
Dring ein buntes Gewimmel hervor.
Jeder sonnt sich heute so gern.
Sie feiern die Auferstehung des Herrn,
Denn sie sind selber auferstanden,
Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern,
Aus Handwerks- und Gewerbes Banden,
Aus dem Druck von Giebeln und Dächern,
Aus Strassen quetschender Enge,
Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht
Sind sie alle an's Licht gebracht.
Sieh nur sieh! wie behend sich die Menge
Durch die Gärten und Felder zerschlägt,
Wie der Fluss, in Breit' und Länge,
So manchen lustigen Nachen bewegt,
Und, bis zum Sinken überladen
Entfernt sich dieser letzte Kahn.
Selbst von des Berges fernen Pfaden
Blinken uns farbige Kleider an.
Ich höre schon des Dorfs Getümmel,
Hier ist des Volkes wahrer Himmel,
Zufrieden jauchzet gross und klein:
Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein.