"Das älteste Weihnachtslied – ist meins!"

Raphael Engel berichtet aus Himmelshall

Es ist das erste Mal, dass mich eine Gemeindebriefredaktion um einen Gastbeitrag bittet. Ich danke Herrn
Degkwitz sehr für diese Anfrage. Mich wundert, dass sie erst jetzt kommt. Immerhin ist mein Weihnachtslied seit 2024 Jahren in aller Munde – deutlich länger als „Stille Nacht“! Ihr singt es jeden Sonntag im Gottesdienst: „Ehre sei Gott in der Höhe …“! So ein altes Lied, heute noch! Und obendrein eines von einem Engel! Es ist das seltene Beispiel eines gemeinsamen Kulturerbes von Engeln und Menschen.

Dieses Lied entstand blitzartig. Es war auf einmal in meinem Ohr, als ich etwas sah, das ich vorher und nachher nirgendwo zu sehen bekam: Maria lag im Stroh, hielt das Baby im Arm und lächelte es an. Das war so ein inniger Anblick! 84 Engel waren wir, die dabeistanden, regungslos vor Ehrfurcht. Doch zugleich wollte ich am liebsten hinauslaufen und laut losjubeln. Ich war angespannt zwischen Stille und Jubel: Denn der große Gott, vor dem wir 84 soeben noch gestanden hatten, lag da winzig im Arm einer Mutter.

Gottes überwältigende Herrlichkeit – in Ärmchen und Beinchen. Das rührte mich, machte mich still – und zugleich war mir nach Aufspringen und Jubeln zumute. Ich wollte andere zum Mitsingen bringen. Jetzt der Chor!, dachte ich. Erst wenn mich etwas zum Singen bringt, habe ich es wirklich gesehen. So ging es mir – nicht das erste Mal! – in Bethlehem. Erst wenn etwas Musik ist – „ist“ es für mich! Als ich das einmal Gott erzählte, meinte sie: „Mensch, Raphael, für dich ist die Schöpfung Musik. Du hörst die Antwort, die in allem wartet! Höre und wecke diese Musik!“ Gott war ehrlich überrascht. So ist das oft mit Gott. Was er tut, ist für ihn erst fertig, wenn es ein Echo findet, das er noch nicht gehört hat. Gott ist gespannt auf so ein Echo – zunächst in uns Engeln, aber dann auch in euch. Das nur nebenbei.

Seit diesem Gespräch habe ich in Himmelshall den Auftrag, Engelslieder zu komponieren. Doch was heißt komponieren?! Notieren und radieren? Nein, hören! Hinschauen und hören. Ich sah das Kind in Marias Arm und hörte. Klänge und Wörter, silbrig und klar. Sie klangen zusammen, sie gingen ineinander über. Das war überwältigend, aber auch betörend. Mit Worten kann ich das nicht beschreiben.

Und was ich auch nicht beschreiben kann: Wie wir Engel dieses Lied gelernt haben. Im Stall von Bethlehem standen wir nämlich nicht zu unserem eigenen Vergnügen. Wir sollten vorwegnehmen, was Menschen in Bethlehem sehen und empfinden. Wir sollten dafür sorgen, dass unser Echo auf die Hirten überspringt. Ich schaute also das Kind an, da sang es in mir, und ich sah kurz zu den anderen und ging nach draußen. Sie kamen sofort mit. Wir Engel achten dauernd aufeinander und nehmen sofort auf, wenn sich etwas in einem von uns regt. Draußen hatten wir kaum Zeit. Es war Nacht, und die Hirten sollten schnell erfahren, was geschehen ist. Prompt waren wir bei ihnen auf dem Feld. Gabriel hielt eine festliche Ansprache.

Dann ließ ich den gehörten Gesang in mir frei und alle sangen mit, jeder Engel mit eigener Stimme, innig oder begeistert, heiter oder zärtlich, laut oder leise. Es entstand vollkommene Harmonie: „Ehre sei Gott in der Höhe – und Friede auf Erden, bei den Menschen seines Wohlgefallens“. 

Sehr viel später habe ich mal zu Gott gesagt: „Hätte das doch jemand aufgenommen! Aber dafür fehlte noch die Technik. Und Mozart lebte erst 1756 Jahre später. Der hätte sich meine Melodie und die Begleitstimmen gemerkt und daheim aufgeschrieben. Die Hirten behielten nur den Text. Für die Melodie waren sie zu unmusikalisch!“ Gott widersprach mir: „Die Zeit war reif für das Kind und dein Lied – auch lange vor Mozart und Spotify.“ „Für den Text: Ja“, erwiderte ich. „Aber für die Melodie kam alles zu früh.“ „Nein, auch für die war der Zeitpunkt goldrichtig! Die Hirten konnten ja überhaupt nicht singen,“ lachte Gott etwas gemein, „sie konnten nur sagen, was sie gehört hatten.

Und so konnte Lukas nur eine Geschichte davon erzählen, der alte Phantast. Aber wer seine Geschichte liest, hört in der eigenen Phantasie plötzlich die Melodie. Bach, Haydn, Mozart, Beethoven, Bruckner, Schönberg, Messiaen: Die haben alle eine Melodie beim Lesen gehört. Und dann noch die alpenländischen Dreigesänge, die lateinamerikanischen Messen …“ Gott war noch mehrere Minuten mit Aufzählen beschäftigt, und als sie fertig war, sah sie mich an: „Und? Welche dieser Melodien kommt deiner am nächsten?“ „Die Salzburger Adventslieder,“ sagte ich sofort. „Stimmt!“ Gott nickte und meinte: „Aber alle anderen auch.“ Ich runzelte die Stirn. „In all diesen Phantasmen höre ich deine Melodie, Raphael: ergreifend, selig, überwältigend. Alle hören deine Melodie mit ihren Ohren und Herzen. Immer wieder wird sie gehört werden.“ „Von wem wohl als nächstes?“, fragte ich schmunzelnd. Gott schwieg kurz und meinte dann: „Von Taylor Swift?“ Ob das ein Witz oder ernst gemeint war, blieb offen.