Zeigt mir seine Narben, fordert Thomas. „Den Ungläubigen“ hat die Geschichte diesen Jünger zu Unrecht getauft. Denn Thomas ist ja kein Ungläubiger, im Gegenteil. Was er aber auch nicht ist: Leichtgläubig. Und ich kann ihn verstehen.
Ich glaube, viele können ihn verstehen: Zeigt mir seine Narben, fordert er von den Jüngern, als sie ihm von ihren Osterbegegnungen erzählen. Und Jesus hält ihm seine Hände hin, mit all den Spuren, die das Kreuz an ihm hinterlassen hat. Es sind seine Narben, die ihn für Thomas glaubwürdig machen. Als er sie sieht, ist er umso überzeugter.
Die Erzählungen von Ostern sind für mich ein Schatz an menschlichen Erfahrungen und Emotionen. In den Tagen um das Fest überschlagen sich: Jubel, Freundschaft, Verrat, Trauer, Hoffnung und alles das, was ein Leben ausmacht und seine Spuren hinterlässt. Nur geschieht das alles in nur einer Woche. Zuviel für einen wie Thomas. Kein Wunder, dass er da nicht mehr so unbesehen alles glauben kann. Er will etwas, worauf er sich verlassen kann, etwas Echtes.
Solche Lebensspuren habe ich auch: Der Schmiss an der Augenbraue von meinem Teenager-Leichtsinn, die Naht von der Bandscheiben-OP. Aber auch den Abdruck von meinem Ehering und die Lachfalten von all den guten Erinnerungen, die ich ein Leben lang behalte. Das alles macht mich aus und macht mich zu dem, der ich heute bin. Und darum ist mir auch Thomas so sympathisch. Weil ich mir auch so einen Jesus wünsche.
In der Erzählung von Thomas – die in unserer Kirche immer am Sonntag nach Ostern gelesen wird – sitzen die Freundinnen und Freunde von Jesus in einem Haus irgendwo in Jerusalem und erzählen sich von allem, was sie da in den letzten beiden Wochen durchlebt hatten und was sie noch immer nicht verstehen: Wie sie mit Jesus unter Jubel nach Jerusalem gezogen waren, mit ihm gegessen und getrunken und gefeiert hatten und wie sie noch am selben Abend alle davongelaufen waren und sich jetzt fürchten. Sie haben sich fest eingeschlossen und zurückgezogen. Weil sie diesen geschützten Raum brauchen, um das miteinander verarbeiten zu können. Und auf einmal ist Jesus mittendrin bei ihnen, als wäre er schon die ganze Zeit dabeigestanden. Er sagt: Friede sei mit euch! Mit seinem Gruß öffnet Jesus die verschlossenen Türen zwischen Himmel und Erde, zwischen Tod und Leben. Und dann öffnet er auch seine Hände und zeigt Thomas die Spuren und Narben. Die bleiben, aber er auch und mit ihm sein Frieden und sein Leben, das stärker ist als alles andere.
Ich erzähle immer sehr gerne und routiniert über alles, was gut läuft. Weniger über das, was mir schwerfällt. Obwohl mich das genauso ausmacht und obwohl mich das erst wirklich glaubwürdig und menschlich macht. Aber damit ich das zeigen kann, brauche ich Glaubwürdigkeit und Sicherheit. Ich brauche ein Gegenüber, das Frieden verbreitet und für mich ein neues Leben möglich macht. Jemanden, der nichts versteckt und auch mal den Finger in die Wunde legt. In meinem Glauben ist das Jesus, so wie er sich an Ostern zeigt. Und ich wünsche mir, dass die Kirche das Haus sein kann, in dem so etwas geschieht.
Ihr Pfarrer Philipp Bäumer